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Rückwärts bergauf – wirklich eine gute Idee für den Muskelaufbau?

Rückwärts bergauf – wirklich eine gute Idee für den Muskelaufbau?

Vielleicht gehörst Du ja auch zu den Leuten, die gerne nach Anregungen für den Muskelaufbau ihres Pferdes suchen. Wenn man im Internet stöbert, findet man viele Ideen dazu. Einige davon passen vielleicht, andere nicht. Und dann sind da noch die, an denen man hängen bleibt und sich fragt, was dahinter steckt. So ging es mir mit dem Vorschlag „Rückwärts bergauf“.

Also schauen wir uns das doch einmal näher an und fragen uns, was eigentlich im Pferd passiert, wenn es diese Übung absolviert. Wir müssen uns zunächst darüber im klaren sein, dass dies eine sehr komplexe Übung ist. Neben der rein körperlichen Aufgabe besteht diese Übung zu einem erheblichen Teil aus einem psychischen Aspekt! Denn was bedeutet das Rückwärtsgehen für ein Pferd?

Gehen wir der Frage auf den Grund. Wann geht ein Pferd rückwärts? Klar: wenn es muss. Ja, und zwar nur dann! Hinter ihm befindet sich sozusagen sein toter Winkel. Dahin geht es nur, wenn es sich aus welchen Gründen auch immer dazu gezwungen sieht. Machen wir uns das noch einmal klar! Das Pferd ist und bleibt ein Fluchttier und rückwärts flüchten macht keinen Sinn. Wenn es ausweichen muss, nutzt es irgendwann die Gelegenheit auf der Hinterhand zu drehen, um weglaufen zu können. Wenn es schneller rückwärts läuft (z.B. aus Angst), besteht die Gefahr, dass es sich überschlägt.

In der Ausbildung der Pferde ist das Rückwärtsrichten als eine Übung zum „durchlässigen Gehorsam“ gedacht, also nicht nur eine Gehorsamsübung, in der es lediglich darum geht, dass das Pferd tut, was der Mensch verlangt. Tatsächlich damit verbunden ist die Hankenbiegung! Es handelt sich also um eine Übung zur Versammlung des Pferdes.

Francois Robichon de la Guérinière (1688 – 1751) empfiehlt zum Beispiel schon vor 300 Jahren, dass man „beim Rückwärtsrichten nicht viel verlangen“ solle, da „das Rückwärtsrichten den ungymnastizierten Rücken und die Hinterhandgelenke überfordern“ könne.

In den Reitschulen, zum Teil auch bei Lehrgängen, sieht das Rückwärtsrichten leider anders aus. Man hält sich vermeintlich an die Ausbildungs-Richtlinien der FN. Dort steht bei näherem Hinsehen aber auch nichts anderes, als das, was Guériniere empfiehlt. Selbst das Nachgeben, was er im Weiteren beschreibt, ist in den Richtlinien gefordert: „Im Moment der Reaktion des Pferdes nach rückwärts muss der Reiter mit der Hand leicht werden […]“. Leider artet die „Hilfengebung“ oft in ein Ziehen am Zügel aus, so dass dem Pferd nichts besseres einfällt, als dagegen zu drücken. Wenn der Druck seitens des Reiters nicht aufhört, geht das Pferd schließlich mit steifen Hinterhandgelenken und damit festem Rücken rückwärts. Die Übung ist beendet, wenn das Pferd stehen bleibt. Der Reiter ist möglicherweise froh, dass er sich „durchgesetzt“ hat. Das Pferd hingegen hat nicht verstanden, was der Reiter gemeint hat und was es damit anfangen soll. Und ist nach dieser „Übung zur Versammlung“ komplett verspannt – im Körper und im Geist.

Wie soll es denn nun tatsächlich aussehen? Werfen wir einen Blick auf die Fußfolge im Rückwärts: das Pferd tritt diagonal nach hinten. Idealerweise beugt es dabei die Hanken und hebt sich im Widerrist, so dass die Schultern leicht werden (relative Versammlung). Und das noch am Berg?

Ich war neugierig und habe eine „Mini-Testreihe“ mit meinen Pferden durchgeführt. Diese Pferde könnten verschiedener nicht sein. Da ich sie gut kenne und genau weiß, wann sie überfordert sind, bin ich sehr vorsichtig vorgegangen und habe dokumentiert, wie sie jeweils die Aufgabe gelöst haben. Keins von diesen Pferden wurde gezwungen, ich habe ausschließlich auf Mitarbeit gesetzt. Hätte eins von ihnen nicht mitmachen wollen, hätte ich Verständnis dafür gehabt, denn diese Übung hat es tatsächlich in sich. Keins von ihnen kannte diese Aufgabe schon vorher. Ich habe versucht, die Durchführung jeweils 2x abzufragen, damit ich genug Bildmaterial hatte.

Die Bilder zeigen jeweils die Phasen:

1) in Ruhe stehen und vorbereiten, 2) losgehen, 3) Hankenbeugung möglich?, 4) Übung beendet

Beispiel 1: Hannoveraner (Halbblut) Stute, 21 Jahre, völlig untrainiert, früher Springen und Dressur

Bei dieser Stute spielt die Psyche die wesentliche Rolle. Würden wir uns nicht schon seit über 15 Jahren kennen, wäre eine solche Übung nicht möglich gewesen. Wir haben lange gestanden, bis sie bereit war (Phase 1). Um loszugehen, verlagert sie ihr Gewicht gut sichtbar nach hinten, wobei der Rücken aufgrund der nicht gebeugten Gelenke „durchhängt“ (Phase 2). Sie geht nur zögerlich einen Schritt zurück (Phase 3).Wir sehen, dass sie in der Lage ist, ihre Hanken zu beugen. Deutlich ist zu sehen, wie sie quasi bis in die Schweifspitze mit ihrem Körper arbeitet und versucht, sich auszubalancieren, um im nächsten Moment notfalls nach vorne flüchten zu können, um dann ihrerseits die Übung zu beenden (Phase 4). Der Kopf bleibt sicherheitshalber oben. Meine Meinung: Diese Übung ist für dieses Pferd nicht geeignet, weil es seiner Natur vollkommen widerspricht.

Beispiel 2: PRE Wallach, 13 Jahre, im Aufbau (Reha)

Bei diesem Wallach spielen sowohl sein fehlendes Körpergefühl als auch seine Psyche eine große Rolle. Das erste Bild zeigt ihn in Erwartung einer Aufgabe, die ihn möglicherweise überfordern könnte. Das ist ein typisches Verhalten für ihn, denn in seiner Jugend musste er wohl einiges ertragen, was er offensichtlich immer noch nicht verarbeitet hat. Auf dem Bild kann man das nicht erkennen, aber da wir uns gut kennen, kann ich das für den Leser „übersetzen“. Phase 2: er verlagert sein Gewicht nach hinten. gleichzeitig geht der Kopf nach oben. Das, was er seinen Hinterbeinen zugemutet hat, ist plötzlich doch zuviel für seine Psyche. Er hat große Angst, dass ihn seine Hinterbeine nicht tragen können. Phase 3: Gelenke öffnen sich, um in Phase 4 die Übung zu beenden. Ganz klar: Abwehrreaktion, Arbeit ohne Rücken. Meine Meinung: Diese Übung ist für dieses Pferd nicht geeignet. Es müssen noch viele Schritte davor gemacht werden!

Beispiel 3: Portugiese Wallach, 10 Jahre, in Ausbildung vom Boden aus (Longe und Freiarbeit), „hypermobil“

Bei diesem Wallach können wir einen komplett anderen Bewegungsablauf beobachten. Aus diesem Grunde habe ich hier 5 Fotos ausgewählt. Er freute sich schon auf eine neue Aufgabe, als ich mit dem Halfter in der Hand zu ihm kam. Kaum an den Start gestellt (Phase 1) hatte er schon mindestens eine Idee, was er tun könnte. Aus meiner Körperhaltung hatte er schon längst geschlossen, was kommen würde. Er setzte sein Gewichte prompt auf die Hinterhand und trat rückwärts, und das mit solch einer Hankenbeugung, dass man gar nicht auf die Idee käme, wie steil der Berg wirklich ist. Beim Zurücktreten sieht man es dann deutlich. Danach habe ich die Übung beendet. Das, was wir hier beobachten können, ist die relative Aufrichtung, also ohne Zwang und mühelos. Die Energie kann hier von den Hinterbeinen bis nach vorne durch den Kopf und wieder zurückfließen. Er hätte so noch den kompletten Berg hochgekonnt, wenn ich ihn nicht gestoppt hätte. Meine Meinung: Diese Übung ist für dieses Pferd eine Abwechslung, aber keine echte Bereicherung.

Mein Fazit: Sicher, ich habe nur wenige Pferde beobachtet (es war noch ein weiteres dabei, das aber nicht mir gehört). Aber auch diese Pferde haben mir ganz deutlich gezeigt, wie unterschiedlich Pferde mit einer kniffeligen Situation umgehen. Weil sie eben unterschiedlich sind! Wenn ich auf der Suche nach Übungen bin, muss ich diese zunächst auf ihre Tauglichkeit für mein Pferd überprüfen und mich fragen: Was habe ich für ein Pferd? Woran genau möchte ich arbeiten? Ist gerade diese Übung für mein Pferd geeignet? Was kann das meinem Pferd bringen? Der größte Fehler wäre, etwas einfach zu machen, weil es irgendwer geschrieben hat. Oder weil das irgendeiner bei Facebook gesagt hat. Oder einfach weil es im Internet stand.

 

Und wieder kann ich nur darum bitten: Hört Euren Pferden zu! Sie haben Euch so eine Menge mitzuteilen!

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